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Front stage vs. backstage Identität – Vergleiche und Bewertungen überwinden

Der kanadische Soziologe Erving Goffman (1922-1982) begleitet mich und mein (wissenschaftliches) Werken schon sehr lange. Er hat zu großen Teilen meine Dissertation zu sozialen Beziehungen beeinflusst und so kommt es auch nicht ganz von ungefähr, dass er auch meine Arbeit als Life Coach und diesen Blogpost mit seinen beiden Termini front stage und backstage prägt.

Lassen Sie mich mit einer kleinen Erlebnisschilderung einleiten, die helfen soll, Ihnen die Begriffe in einem alltäglichen Kontext zu veranschaulichen.

Neulich auf einem Konzert…

erlebe ich kurz vor Beginn einen etwas überraschenden Moment. Wenige Minuten vor Showbeginn steht der Sänger der Band vor der Bühne im Publikum und begrüßt ihm bekannte Menschen und plaudert mit ihnen. Er wirkt dabei recht unscheinbar, nicht zurechtgemacht, lässig im Hoodie. Wer ihn nicht kennt und ihn so sieht, würde ihn auf keinen Fall später auf der Bühne erwarten.
Wenige Minuten später betritt er das Rampenlicht auf der Bühne und ich habe das Gefühl, da steht ein ganz anderer: eine viel aufrechtere Haltung, große Gesten, Präsenz. Er hat die Menge sofort im Griff und alle Blicke sind auf ihn gerichtet.
Front stage, und in seinem Fall auf der Bühne, wirkt er sicher, selbstbewusst und sticht durch seine Performance bzw. sein Auftreten besonders hervor. Abseits der Bühne in der Menge geht er eher als der unscheinbare Typ von nebenan durch.

Diese kurze Beobachtung dient als ein klassisches Beispiel für uns alle in unseren jeweiligen täglichen Kontexten: Wir sind nicht nur der oder die Eine, sondern wir sind Viele: Vater, Sänger, Fan, Mitarbeiter, Chef, Bruder, Schwester oder Mutter, Studentin, Ehefrau, Nachbarin, … Und von der einen zur anderen Rolle unterscheiden wir uns durchaus im Verhalten und Auftreten erheblich.

Das Leben ist eine Bühne

Unser Leben kann nach Goffman als eine Bühne, auf der wir agieren, betrachtet werden. Die Bühne muss nicht tatsächlich eine Bühne bzw. exponierte Position sein. Im Falle eines Schülers könnte dieser z.B. unterschiedliche „Identitäten“ im Klassenzimmer (front stage) oder auf dem Pausenhof im Beisammensein mit seinen Kumpels (backstage) annehmen.

Unser Auftreten prägt dabei unsere Identität. Umgekehrt ist unser Auftreten für Goffman nicht gleichbedeutend ein Resultat unserer Identität. Unsere Identität ist für Goffman immer ein soziales Konstrukt, d.h. sie kann nicht ohne ein Gegenüber (ein Publikum) dargestellt werden. Ein Individuum wird automatisch durch soziale Strukturen beeinflusst (vgl. hierzu face nach Goffman in Fröhlich 2015; Buch im deGruyter Verlag). Die Begriffe front stage und backstage unterscheiden z.B. den Grad der Öffentlichkeit einer Darbietung oder auch die Bekanntheit des Gegenübers (z.B. ein Fremder vs. ein Vertrauter). Front stage Identität wird also für eine Menschenmenge oder für fremde Personen dargeboten, während backstage Identität sichtbar wird, wenn wir mit vertrauten Personen oder einer ingroup interagieren.

Sie kennen vielleicht Menschen, deren Verhalten, Sprache oder Auftreten in unterschiedlichen Rollen oder Settings extrem abweicht und Sie verspüren möglicherweise den Impuls Ihre Wahrnehmung abzugleichen und zu bewerten. Oder mit anderen Worten: Eine Person zeigt stark abweichendes Verhalten innerhalb verschiedener Rollen, das Sie – als Wahrnehmende/r – fast nicht in dieser Person vereinen können. Möglicherweise mag solch eine Identität in einer anderen Rolle gar nicht zu dieser Person passen. Also, welche Identität ist nun ‚echter‘ oder ‚stimmiger‘: die vor bzw. hinter der Bühne (backstage) oder die auf der Bühne bzw. im öffentlichen Bereich (front stage)?
Wie wäre es, wenn wir Verhalten gar nicht in gegensätzlichen Kategorien, wie z.B. (nicht) authentisch oder stimmig(er), beurteilen, sondern es auf verschiedene Bereiche bezogen, und damit voneinander losgelöst, betrachten? Genau diesen Ansatz verfolgt Goffman mit seiner Unterscheidung front stage und backstage.

Was bringt Ihnen dieses Konzept und Wissen im Alltag?

Was ist also der Vorteil, wenn wir uns und anderen zugestehen, dass wir uns je nach Bereich und Publikum anders verhalten und nicht in gegensätzlichen Schubladen-Kategorien denken?

Es macht einen Unterschied,

  • ob wir uns und andere in Kategorien beWERTEN (z.B. authentisch – nicht authentisch) oder
  • ob wir verschiedene Bereiche sehen – front stage oder backstage, die uns und andere unterschiedlich auftreten lassen.

Sehen wir die verschiedenen Bereiche mit ihrem anderen ‚Publikum‘, sind beide ‚Auftritte‘ in sich stimmig und lassen uns unseren Drang zum Vergleich und zur (Kategorie-)Bewertung überwinden. Wir müssen dann gar nicht nach „echterem“ Verhalten suchen, sondern können den Menschen mit seinen Identitäten eher räumlich in verschiedenen Kontexten verorten und alles Dargebotene einfach nur wahr- und als gegeben annehmen.

Somit gibt Ihnen dieses theoretische Konzept von front stage und backstage Identitäten die Möglichkeit, soziale Vergleiche und Persönlichkeitsbewertungen zu reflektieren bzw. zu hinterfragen und im besten Fall ganz zu überwinden.

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